Stefan Hügel ist Diplom-Informatiker, im Rahmen von Informatik und Gesellschaft beschäftigt er sich mit den Themen Überwachung, Datenschutz, Künstliche Intelligenz, IT-Sicherheit und Cyberwar. Er ist Vorsitzender des FIff e. V. und Mitglied des Bundesvorstands der Humanistischen Union. Dieser Beitrag erschien zuerst im Grundrechte-Report 2021, der heute im Fischer-Taschenbuch-Verlag erschienen ist. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.
Am 6. Oktober 2020 veröffentlichte der Europäische Gerichtshof (EuGH) seine Urteile zu den Klagen von Großbritannien, Frankreich und Belgien zur Vorratsdatenspeicherung. In diesen Urteilen entschied er darüber, ob seine zuvor getroffenen Urteile auch auf die Nutzung dieser Daten für nachrichtendienstliche Zwecke anzuwenden seien (EuGH C-623/17, C-511/18, C-512/18, C-520/18).
Der EuGH stellte dabei erneut fest, dass eine allgemeine und unterschiedslose Speicherungs- oder Weiterleitungspflicht von Verkehrs- und Standortdaten mit dem Unionsrecht unvereinbar ist. Er begründet dies mit Artikel 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens), Artikel 8 (Schutz personenbezogener Daten) und Artikel 11 (Meinungsfreiheit) der Grundrechtecharta.
Die Praxis massenhafter Speicherung von Daten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union muss dem EU-Recht und damit den Datenschutzgesetzen unterliegen. Der EuGH setzt damit einen vorläufigen Schlusspunkt hinter eine Debatte, die seit 2006 geführt wird. Im Verlauf dieser Debatte wurde mehrfach die Rechtswidrigkeit der Bestimmungen zur Vorratsdatenspeicherung höchstrichterlich festgestellt – dessen ungeachtet haben Sicherheitspolitiker:innen immer wieder neue Bestimmungen dazu gefordert und beschlossen.
Seit dem ersten Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 2. März 2010 (1 BvR 256/08, 1 BvR 263/08, 1 BvR 586/08), das die Vorratsdatenspeicherung in ihrer damaligen Regelung für nichtig erklärte, und weiteren Urteilen des BVerfG und des EuGH, in denen die Rechtswidrigkeit wiederholt bestätigt wurde, fordern Sicherheitspolitiker:innen mehrerer Parteien in Deutschland und Europa immer wieder ihre Einführung. Nun in Form der IP-Vorratsdatenspeicherung, die der EuGH in dem genannten Urteil zwar – in Aufweichung seiner bisherigen Rechtsprechung – nicht mehr grundsätzlich ausschließt, aber ebenfalls an enge Vorgaben knüpft.
Ausnahmen will er im Gegensatz zur bisherigen Rechtsprechung jetzt zulassen, wenn in einem Mitgliedstaat eine ernsthafte, tatsächliche, gegenwärtige oder vorhersehbare Bedrohung der nationalen Sicherheit besteht, beispielsweise durch Terrorangriffe. Damit wäre eine temporäre Anwendung der Vorratsdatenspeicherung rechtlich möglich. Haben die jahrelangen Forderungen nach der Speicherpflicht selbst den EuGH mürbe gemacht?
Jahrelanges zähes Ringen
Die Anfänge der Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung liegen in den 2000er Jahren, nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 in den USA. Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily setzte sich danach verstärkt für neue Ermittlungsbefugnisse zur Bekämpfung des Terrorismus ein – unter anderem sollten Telekommunikationsunternehmen und Internetprovider verpflichtet werden, Nutzungs- und Verbindungsdaten mindestens sechs Monate lang zu speichern.
Daraus entstand letztlich die EU -Richtlinie 2006/24/EG, die 2007 in deutsches Recht umgesetzt wurde. Dagegen formierte sich eine eigene Bürgerrechtsvereinigung, der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, der unter anderem mehrere Großdemonstrationen organisierte und beim BVerfG Verfassungsbeschwerde gegen die Umsetzung der Richtlinie in Deutschland erhob.
Das BVerfG veröffentlichte sein erstes Urteil zum Thema am 2. März 2010. Dort wurden §§ 113a und 113b Telekommunikationsgesetz und § 100g Strafprozessordnung zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG für nichtig erklärt, da sie gegen Artikel 10 Absatz 1 des Grundgesetzes verstießen.
Die Erklärung der Nichtigkeit der Bestimmungen war ein starkes Signal für die Grundrechte. Das BVerfG betonte zwar, dass die Speicherung nicht unter allen Umständen unzulässig sei: Verboten ist aber eine Sammlung von Daten auf Vorrat zu unbestimmten oder noch nicht bestimmbaren Zwecken –, wie es bei einer Speicherung von Telekommunikationsdaten auf Vorrat in der Regel der Fall ist.
Zu bestimmten Zwecken ist die Speicherung möglich, wenn eine adäquate gesetzliche Ausgestaltung den Verhältnismäßigkeitsanforderungen genügt. Dies bemisst sich danach, ob sich die Überwachungsgesamtrechnung, also die Gesamtheit zusammenwirkender Überwachungsmaßnahmen, im angemessenen Bereich bewegt. Wenn man die zahlreichen weiteren Überwachungsmaßnahmen bei dieser Rechnung berücksichtigt, ist kaum mehr ein Szenario denkbar, in dem eine zusätzliche Vorratsdatenspeicherung verfassungskonform möglich wäre.
Doch die Speicherpflicht war damit nicht vom Tisch. Am 16. Oktober 2015 wurde das Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom Deutschen Bundestag beschlossen. Gegen dieses Gesetz wurden mehrere Verfassungsbeschwerden eingereicht. Am 22. Juni 2017 entschied das Oberverwaltungsgericht Münster nach einem Eilantrag, dass die deutsche Gesetzgebung nicht mit der europäischen Rechtsprechung vereinbar ist.
Bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren wurde daraufhin die Pflicht zur Vorratsdatenspeicherung durch die Bundesnetzagentur ausgesetzt. Am 25. September 2019 beschloss das Bundesverwaltungsgericht, die endgültige Auslegung an den EuGH zu übergeben; bis dahin bleibt die Aussetzung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland vorläufig bestehen. Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages kommt zu dem Ergebnis, dass die im Gesetz vom 16. Oktober 2015 enthaltene Regelung kaum Bestand haben wird, da die Speicherung ohne gesonderten Anlass den Grundsätzen des EuGH nicht entspricht.
Heute schon die Speicherpflicht gefordert?
Seit dem ersten Urteil des BVerfG haben höchstrichterliche Entscheidungen wiederholt die Vorratsdatenspeicherung zurückgewiesen oder ihr enge Grenzen gesetzt. Eine Studie des Max-Planck-Instituts ergab schon 2011, dass der Verzicht auf die Vorratsdatenspeicherung nicht als Ursache für Veränderungen bei der Aufklärungsquote gelten kann.
Trotz der in der Studie festgestellten Nutzlosigkeit und der höchstrichterlich festgestellten Verfassungswidrigkeit wird die Forderung von Sicherheitspolitiker:innen immer wieder erhoben. Zuletzt forderten die Justizminister:innen der Bundesländer Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen im November 2020 die Wiederaufnahme der IP-Vorratsdatenspeicherung.
Auch mit der Faktenlage nimmt man es nicht immer genau: So verwies beispielsweise der damalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel auf Fahndungserfolge nach den Morden von Oslo 2011. Er übersah dabei offenbar, dass es 2011 in Norwegen noch keine Vorratsdatenspeicherung gab. Gerne wird auch auf die angebliche Harmlosigkeit der Sammlung von Verkehrsdaten im Gegensatz zu den Kommunikationsinhalten verwiesen – tatsächlich können aus den Verkehrsdaten intimste Details abgeleitet werden.
Sie legen persönliche Netzwerke offen und ermöglichen detaillierte Bewegungsprofile. Oft lassen sich auch die wesentlichen Gesprächsinhalte bereits aus den Gesprächspartner:innen ableiten, beispielsweise wenn man mit Beratungsstellen Kontakt aufnimmt.
Die Forderung nach der Vorratsdatenspeicherung ist zu einem sicherheitspolitischen Symbol geworden und wird bei jedem neuen Vorfall reflexartig vorgetragen. Anstatt Strafverfolgung und Terrorismusbekämpfung mit rechtsstaatlich unbedenklichen Mitteln auszugestalten, versuchen Sicherheitspolitiker:innen immer wieder, auf ein hochproblematisches Instrument zurückzugreifen. Sie gehen damit wissentlich das Risiko ein, die Grundrechte und ihre Akzeptanz in der Bevölkerung immer weiter auszuhöhlen.
Es ist wichtig, die „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ endlich vernünftig zu definieren.
Ganz konkret stellt sich die Frage, ob es in diesem Jahrtausend in Deutschland überhaupt schon einmal eine Situation gegeben hat, in der die „nationale Sicherheit“ dermaßen bedroht war, dass solide Polizeiarbeit mit Ermittlungen, Haftrichtern und Gerichten nicht ausgereicht hätte, um unsere Demokratie zu schützen.
Denn was gerne übersehen wird: Überwachung, Zensur und Zwangsmaßnahmen gegen Gefährder – Menschen, die unschuldig sind, aber vielleicht in der Zukunft Straftaten begehen könnten – sind für die Demokratie, was eine Chemotherapie für den Körper ist: Ein Gift, dass den Körper langsam tötet. Weshalb es nur sehr wenige, lebensbedrohende Situationen gibt, in denen die Anwendung sinnvoll ist.
Deshalb müssen wir dringend Einigkeit erzielen, was für Situationen das genau sind, die Einschränkungen der Grundrechte rechtfertigen könnten.
So wie ich es sehe, tut diese Regierung, WAS SIE KANN.
In einer Zeit, in der sich das Nationale immer mehr als Hinderungsgrund für eine Zivilisation herausstellt, diskutieren wir nationale Sicherheit?
Ich habe den Eindruck, dass die Menschheit Schwierigkeiten mit der Einschätzung hat, ab wann begriffliche Zuordnugnen zu Luxusproblemen werden.
Die Möglichkeiten der digitalen Spurensuche – mit modernster Technik zur Freude der Polizei werden bei polizeilichen Verkehrsunfallaufnahmen auf ein neues Level gehoben. Kein Lebensbereich, in dem die Digitalisierung nicht vieles verändert und der Polizei auch vieles ermöglicht. Gerade in der Mobilität erleben wir immer neue Innovationsschritte, die zu mehr Vorratsdaten beitragen. So besitzen moderne Fahrzeuge digitale Systeme, die Daten etwa von Assistenzsystemen – etwa über die gefahrene Geschwindigkeit, die Stellung des Gas- und des Bremspedals oder die Angurtsituation – digital auf sogenannten Crash- bzw. Event Data-Recordern aufzeichnen. Und genau das kann jetzt bei der Unfallaufnahme oder nach Straftaten schnell ausgewertet werden. Das Land Baden-Württemberg hat 25 Geräte für das Auslesen und Auswerten digitaler Mobilitäts-Daten beschafft.
Kfz sind Hochrisiko-Anwendungen, gleichzeitig ist überhöhte Geschwindigkeit ein Hauptgrund für Unfälle, Geschädigte oft Dritte.
Es ist absolut angemessen, die verfügbaren Mittel zur Risikosenkung einzusetzen. Kein Kfz ohne Fahrtschreiber.
Es wundert mich nur immer wieder, dass all diese Möglichkeiten nicht zur Anwendung zu kommen scheinen, sobald der Verdacht auf einen der lieben Kollegen fällt. Da ermittelt dann der lokale Wachtmeister Dimpfelmoser mal wieder ergebnislos. Zur Freude des gesamten Polizeibezirks.
Wer am 26.5. die PK zur Kriminalitätsstatistik verfolgt hat, dem ist vermutlich genauso wie mir mindestens ein Ohr abgefallen.
Spätestens an dem Punkt wo es heisst, man bräuchte eine durchgängige Vorratsdatenspeicherung mit viel längeren Fristen. Aber nur ne Handvoll Sätze später die Feststellung, das beschalgnahmte Endgeräte in den Aservatenkammern bis in alle Ewigkeit liegen, weil nicht genügend Personal zu Verfügung steht um die Daten auszuwerten, lässt mich an allen guten und schlechten Geistern zweifeln.
Vollautomatische Auswertung gefällig?
Das wurde doch hier in den Kommentare vor ein paar Monaten auch schon mal erwähnt: das systematische „Vergammeln-lassen“ von Elektotechnik im Wert von hunderten/tausenden Euro ist fast schon zu einer Form der polizeilichen Ersatzbestrafung verkommen. Man weigert sich bei manchen Dienststellen selbst noch die Dinger wieder freiwillig herauszugeben, wenn der Anfangsverdacht (und damit der Durchsuchungsgrund) inzwischen widerlegt wurde.